Im Fokus der Kritik – Männlichkeit heute und einst

Männlichkeit hat derzeit ein schlechtes Image; sie wird mit Belästigung, Vergewaltigung, Umweltzerstörung oder Kriegslust korreliert. Weltweite Kampagnen wie „Metoo“ und misandrische Werbeaktionen von Cosmos-Versicherungen, Gillette oder Edeka befördern, dass die entwertende Darstellung des Mannes sukzessive habituell wird. Männlichkeit wird inzwischen ganz selbstverständlich als eine Art Abweichung vom Normalen beschrieben. Eigenschaften von Männlichkeit, die einst hoch gelobt waren, werden heute negativ umgedeutet: Autonomie wird zur Beziehungsunfähigkeit, Leistungswille zur Karrieresucht oder Disziplin zum Mangel an Spontaneität. Eigentlich normales Verhalten wird damit pathologisiert.

Das ist eine historischer Zäsur. Der Mann galt über lange Jahrhunderte als Schöpfer von Zivilisation und Kultur; er war verantwortlich für Schutz und Fortbestand des Gemeinwesens. In Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ heisst es im Text nach John Miltons „Verlorenem Paradies“: „Mit Würd´ und Hoheit angetan, mit Schönheit, Stärk´ und Mut begabt, gen Himmel ausgerichtet, steht der Mensch, ein Mann und König der Natur“. Manchmal sind solche Bilder mit der androzentrischen Gefahr verbunden, das eigene Geschlecht zu idealisieren und dementsprechend das andere abzuwerten; zumeist sind sie aber durchaus altruistisch. „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“, steht in Schillers „Wilhelm Tell“. Beethoven spricht vom „Männerstolz vor Königsthronen“ und meint das mutige männliche Einstehen für Freiheit und Selbstbestimmung. Apostel 13 fordert den „Mann nach dem Herzen Gottes“ und das impliziert Güte, Verantwortung und Fürsorge.

Der Bruch mit diesem Bild wird registriert zu Beginn der siebziger Jahre, als der Feminismus – vor allem in seiner vulgären Ausdrucksform der French, Dworkin oder Schwarzer – beim Kampf gegen das Patriarchat auch das männliche Subjekt gnadenlos zerlegte. So konstatierte Andrea Dworkin: „Terror strahlt aus vom Mann, Terror erleuchtet sein Wesen, Terror ist sein Lebenszweck. In ihrem Bestseller „Frauen“ setzte Marilyn French Männer umstandslos mit Nazis gleich. Der Übergang von der verbalen Militanz zur physischen ist nur konsequent: „Ich möchte einen Mann zu einer blutigen Masse geprügelt sehen“, notiert Dworkin, „mit einem hochhackigen Schuh in seinen Mund gerammt wie ein Apfel in dem Maul eines Schweins“. Misogynie und Frauenfeindlichkeit sind seit langem anerkannte Themen, für die die Öffentlichkeit stets aufs Neue sensibilisiert wird; für Misandrie und Männerfeindlichkeit gilt das hingegen nicht.

Die dramatische Entwertung der Männlichkeit wird man dem Feminismus aber nur in seiner ideologischen Komponente anlasten können. Lange vor der ersten und zweiten Frauenbewegung hatte schon die Erosion traditioneller Qualitäten von Mannsein eingesetzt, die über den Umbau der Wirtschaft erfolgte. In einem Sammelband US-amerikanischer Psychiater, der 1982 erschienen ist, notiert Wolfgang Lederer: „Es war die Maschine, die die Männer eines der wenigen natürlichen Vorteile über die Frau beraubte, ihrer größeren körperlichen Kraft. Es braucht einen starken Mann, um Land zu roden und eine gerade Furche zu pflügen; dagegen ist ein weiblicher Teenager in der Lage einen Traktor zu fahren“. Der Mann ist zum Anhängsel seiner eigenen Erfindungen geworden und hat sich so seiner Kraft, Autonomie und Kreativität enteignet.

Diese Entwicklung hat sich verstärkt; die Wirtschaft tendiert seit geraumer Zeit in Richtung des „weiblichen“ Dienstleistungsgewerbes und zur sukzessiven Schrumpfung der „männlichen“ Industriearbeit. Klassische männliche „Arbeitszonen“ von Stahlproduktion, Bergbau und Schwerindustrie haben sich aufgelöst. Dort sind Millionen Männer z. T. mehrfach arbeitslos geworden. Einst prosperierende Regionen wie z.B. der „Ruhrpott“ sind heute Armutsgebiete. Seit einigen Jahren ist die männliche Arbeitslosenquote höher als die weibliche. Das alimentiert nicht gerade die Zukunftsperspektive der nachwachsenden männlichen Generation, ebenso wenig wie der Slogan „Die Zukunft ist weiblich“. In den USA ist diese Botschaft bereits angekommen. Dort spricht man mittlerweile nicht mehr von Rezession, sondern von „Hecession“. Nicholas Eberstadt belegt in seiner Untersuchung „Men without Work: America´s Invisible Crisis“, wie sehr den amerikanischen Männern die Arbeit ausgeht und sie damit immer mehr zum sozialen Problem werden. In ihrem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Das Ende der Männer und der Aufstieg der Frauen“, das auch bei uns ein Bestseller war, analysiert Hannah Rosin den epochalen Niedergang amerikanischer Männlichkeit. Während der großen Rezession ab 2007 waren drei Viertel der 7,5 Millionen Entlassenen Männer, 2009 zum ersten Mal mehr Frauen erwerbstätig als Männer. Bereits mehr als ein Drittel der amerikanischen Mütter sind die Haupternährer ihrer Familien – Tendenz steigend. Die Konsequenz: ein drastischer Rollenwechsel. „Überall, wo ich hinkam, passten sich Paare an die neue häusliche Realität an: Die Frau zahlt die Hypothek ab. Die Frau fährt jeden Tag zur Arbeit und gibt dem Mann vorher noch schnell Anweisungen, wie er die Wäsche machen muss“.

So sehr Männer noch immer an der oberen Spitze der sozialen Pyramide überrepräsentiert sind, so sehr sind sie es auch am unteren Ende. Das Gros der Arbeitslosen, Hilfsarbeiter, Wanderarbeiter, Obdachlosen oder chronisch Kranken ist männlich. Männer üben nicht nur die dreckigsten Berufe aus (Kehrrichtabfuhr, Entsorgung, Tiefbau, Gummiverarbeiter, Strassenreinigung, Abwässerreinigung), sondern auch die gefährlichsten (Hochbau, Gefahrengüterentsorgung, Dachdecker, Gleisbauer, Sicherheitswesen, Feuerwehr, Katastrophenschutz, Bergwerk). Das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Opfern bei den Einsätzen von Polizei, Feuerwehr, Notärzten, Sanität, Katastrophendiensten oder technischem Hilfswerk beträgt 98:2. Bei den Rettungsaktionen in Tschernobyl und am 11. September in New York sind ausschließlich männliche Helfer gestorben. Alle Feuerwehrleute In Notre Dame waren Männer.

Rund Dreiviertel der Suizidtoten sind Männer. In der Adoleszenz sind gar 86% der Suizidtoten männlich. In den vergangenen Jahren ist die Suizidquote von Männern und männlichen Jugendlichen angestiegen, während jene, die Frauen und Mädchen betrifft, kontinuierlich abnimmt. Das fügt sich ein in eine gesamthaft desaströse Gesundheitsbilanz von Männern. Die moderne Gesundheitsforschung bezeichnet Männer inzwischen als das kranke oder das eigentlich schwache Geschlecht. Beratungsstellen für Männer machen darauf aufmerksam, dass Männer wachsende Schwierigkeiten in Beziehungen und Familien haben, zunehmend über emotionale Probleme berichten (Einsamkeit, Sinnverlust) und vermehrt an Impotenz leiden.

Die wachsende Verunsicherung von Männern bewirkt, dass sie umso mehr an traditionellen Bildern von Männlichkeit festhalten. Das erklärt z.B. auch, dass signifikant mehr Männer als Frauen zur Rechtsradikalität neigen. Verunsicherte Männer wagen sich auch immer später in die Welt hinaus; die Hälfte der 25-jährigen wohnt noch zuhause; bei den über 30-jährigen leben noch 14% im „Hotel Mama“. Die Sinus-Studie über „Lebensentwürfe, Rollenbilder und Haltungen zur Gleichstellung 2o-jähriger Frauen und Männer“ notiert: „Die Männer leiden in ihrer subjektiven Befindlichkeit und fühlen sich in der Defensive“. Die Betroffenen beklagen einen Mangel an Orientierung,

Verunsicherte Männer sind zögerlich, eine Partnerschaft einzugehen. Der Kinderwunsch von jungen Frauen ist heute markant höher als der von jungen Männern; viele trauen es sich einfach nicht mehr zu für Familie und Kinder verantwortlich zu sein. Laut dem Statischen Bundesamt in Deutschland leben 27 Prozent der 18- bis 34-Jährigen allein und wollen auch keine Beziehung. Das ist nachgewiesenermassen ein wichtiger Grund für die sinkende Geburtenrate. Auch immer mehr Arbeitgeber klagen über ihre männlichen Auszubildenden. Ihnen fehle es an Disziplin, Wille zur Kontinuität, Standfestigkeit und Frustrationstoleranz; sie seien zu weich und gäben zu schnell auf. Das bestätigt auch das Lehrpersonal. Der prototypische Problemschüler ist heute männlich. Das wiederum hat Folgen für das Sozialsystem (Arbeitslosengelder, Frühinvalidität, Ansteigen der Sozialhilfe); es wird demnächst auch Folgen haben, was das Fehlen männlicher Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt angeht. Dramatisch bewertet die amerikanische Psychologin Helen Smith diese Entwicklung in ihrem Buch „Men on Strike“: Junge Männer würden sich zunehmend arbeits-, beziehungs- und zeugungsmässig verweigern.

Das hat seine Gründe: Die (feministischen) Sozialwissenschaftlerinnen Benard und Schlaffer bemängeln, dass bei Jungen – im Gegensatz zu modernen Mädchen – „in der Erziehung und in der Lebenswelt neue Ziele, neue Wertvorstellungen, neue charakterliche Richtlinien nicht wirklich“ vorkommen. Selbiges thematisiert auch Susan Faludi: Männern sollte der Gewinn einer veränderten Lebenseinstellung konstruktiv verdeutlicht werden. Dazu müsse man den Männern aber Wege weisen, die sie beschreiten können, so wie der Staat das gegenüber den Frauen seit den siebziger Jahren getan habe.

Freuds Diktum von den Frauen als „dark continent“  hat sich historisch gedreht. Die Welt der Frauen ist heute differenziert erforscht, während Männer eher das unbekannte Geschlecht repräsentieren. Dazu haben sie allerdings auch selber beigetragen, weil sie sich – im Gegensatz zu den Frauen – um ihre eigene Verfasstheit zu wenig kümmern. Grundsätzlichere Fragestellungen des Problems benennt ein aktueller Report der EU „ The role of men in gender equality“. Darin heisst es, dass die europäische Politik und insonderheit deren Kommissare in Brüssel aus einer langen feministischen Tradition kämen. Sie hätten in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, den Fokus ihrer Arbeit auf Fragestellungen zu legen, die ausschliesslich Frauen und Mädchen betreffen. „Nun müssen sie lernen, dass auch Männer ein Geschlecht haben“.

Über den Autor
  • Prof. Dr. Walter Hollstein
    Hollstein Prof. Dr. Walter

    Dr. Walter Hollstein beschäftigt sich seit mehr als vier Jahrzehnten mit Mannsein und Männlichkeit. Er gehört zu den Begründern der emanzipatorischen Männerbewegung und gilt als Doyen der Männerforschung im deutschsprachigen Raum. Bei Wikipedia heisst es: „Hollsteins frühe Arbeiten zur Männerforschung galten im deutschsprachigen Raum als grundlegend“. Prof. Holger Brandes sieht in Hollsteins Nicht Herrscher, aber kräftig von 1988 den eigentlichen Startpunkt der Männerforschung in Deutschland. Dag Schölper fasst die Bedeutung Hollsteins für die Männerforschung so zusammen: „Hollsteins Pionierleistung war eine doppelte. Zum einen machte er Fragestellungen der Frauenbewegung und der Männergruppen für sozialwissenschaftliche Diskussionen anschlussfähig. Zum andern fasste er den aktuellen Diskussionsstand der US-amerikanischen men’s studies zusammen und machte damit erstmals die amerikanischen Erkenntnisse einem breiteren deutschsprachigen Publikum zugänglich, auf die fortan aufgebaut werden konnte.“ In seinem Buch „Was vom Manne übrig blieb“ kritisiert Hollstein die zunehmende Abwertung von Männlichkeit. Der Band erschien 2008 Im Berlinern Aufbau-Verlag und in einer erweiterten und überarbeiteten Fassung 2012 bei Opus Magnum in Stuttgart. In seinem Buch „Das Gären im Volksbauch“ beschreibt Hollstein 2020 die aktuelle Situation der Männer (Verlag NZZLibro). Hollstein leitete lange Männergruppen und Männerseminare.

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